Rechtsstaat im digitalen Zeitalter
Eine verfassungsnormenorientierte Zusammenfassung des Vortrags von Prof. Dr. Henning Radtke, Richter des Bundesverfassungsgerichts, anlässlich der Eröffnung des 33. EDV-Gerichtstags in Saarbrücken
1. Herausforderungen für die demokratische Willensbildung
- Artikel 5 Absatz 1 GG (Meinungsfreiheit): Radtke betonte, dass die Meinungsfreiheit ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung sei. Diese Vorschrift schütze nicht nur die freie Meinungsäußerung, sondern auch die Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu informieren. Im digitalen Zeitalter sei es entscheidend, dass Informationen nicht durch KI-basierte Manipulationen verfälscht würden, um die Integrität der Meinungsbildung zu wahren.
- Artikel 38 GG (Wahlgrundsätze): Radtke verwies auf die Grundsätze freier, gleicher und geheimer Wahlen, die durch Artikel 38 GG geschützt sind. Er hob hervor, dass digitale Manipulationen, etwa durch den Einsatz von KI zur gezielten Beeinflussung von Wahlen, diese Grundsätze gefährden könnten. Daher sei es essenziell, technologische Eingriffe in den Wahlprozess zu regulieren.
- Artikel 20 Absatz 2 GG (Demokratieprinzip): Das Demokratieprinzip, das in Artikel 20 Absatz 2 GG verankert ist, stellt sicher, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Radtke machte deutlich, dass jede Form der Einflussnahme durch KI, die die öffentliche Meinungsbildung und den demokratischen Willensbildungsprozess unterminiert, eine Bedrohung für dieses Grundprinzip darstellt.
- Artikel 21 GG (Parteienprivileg und Chancengleichheit der Parteien): Dieser Artikel regelt die Rolle der politischen Parteien und sichert ihre Gleichbehandlung im politischen Wettbewerb. Radtke wies darauf hin, dass digitale Plattformen und KI-Anwendungen die Chancengleichheit der Parteien beeinflussen können, beispielsweise durch ungleiche Sichtbarkeit oder gezielte Desinformation, was den fairen politischen Wettbewerb gefährde.
- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Radtke betonte, dass staatliche Eingriffe zur Regulierung von KI und digitalen Plattformen, die die Meinungsbildung beeinflussen, immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen müssen. Es sei wichtig, ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der demokratischen Prozesse und der Wahrung der Freiheitsrechte zu finden.
2. Schutz der Freiheitsrechte im digitalen Zeitalter
- Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG): Diese Artikel bilden die Grundlage für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt ist. Artikel 2 garantiert das allgemeine Persönlichkeitsrecht, während Artikel 1 die Menschenwürde schützt. Zusammen sichern sie das Recht des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen.
- Artikel 92 GG: Dieser Artikel legt fest, dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist. Radtke hob hervor, dass diese Vorschrift im Kontext der digitalen Transformation der Justiz besonders relevant sei, da der Einsatz von KI die richterliche Unabhängigkeit infrage stellen könne.
- Volkszählungsurteil (1983): Radtke verwies auf das historische Volkszählungsurteil, in dem das Bundesverfassungsgericht erstmals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konkretisierte. Es stellte fest, dass individuelle Selbstbestimmung nur gewährleistet werden könne, wenn der Einzelne über die Preisgabe seiner Daten frei entscheiden könne.
3. Richterliche Unabhängigkeit und KI
- Artikel 92 GG: Dieser Artikel ist fundamental für die richterliche Unabhängigkeit, da er die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Richtern anvertraut. Radtke wies darauf hin, dass diese Vorschrift gefährdet sein könnte, wenn KI-gestützte Systeme zunehmend in den Prozess der Rechtsanwendung integriert würden und richterliche Entscheidungen beeinflussten.
- Artikel 97 GG: Artikel 97 garantiert die richterliche Unabhängigkeit und besagt, dass Richter nur dem Gesetz unterworfen sind. Radtke unterstrich, dass dieser Schutz der Unabhängigkeit zentral bleibe, auch wenn KI-gestützte Systeme in die Entscheidungsfindung einbezogen würden. Die Unabhängigkeit der Justiz dürfe durch algorithmische Entscheidungsvorschläge nicht ausgehöhlt werden.
- Artikel 20 Absatz 3 GG: Dieser Artikel legt die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht fest. Radtke betonte, dass die Implementierung von KI im Justizwesen stets in Einklang mit dieser Vorschrift stehen müsse, um sicherzustellen, dass KI-Systeme nicht gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen oder die richterliche Entscheidungsgewalt untergraben.
- Grundsatz der Gewaltenteilung: Dieser Grundsatz, der ebenfalls in Artikel 20 GG verankert ist, wurde von Radtke hervorgehoben, um zu verdeutlichen, dass die Trennung der staatlichen Gewalten auch in Zeiten der Digitalisierung gewahrt bleiben muss. KI dürfe nicht zu einer Verschiebung der Gewaltenteilung führen, indem technische Systeme die richterliche Entscheidungsbefugnis übernehmen.
4. Verfassungsrechtliche Grenzen für den Einsatz von KI
- Artikel 19 Absatz 4 GG: Dieser Artikel garantiert den effektiven Rechtsschutz vor Gerichten. Radtke betonte, dass der Einsatz von KI-Systemen nicht dazu führen dürfe, dass Bürgerinnen und Bürger den Zugang zu einem wirksamen und nachvollziehbaren Rechtsschutz verlören. Die Unklarheit oder Intransparenz von KI-Entscheidungen könnte diesen Grundsatz gefährden, was nicht mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz vereinbar wäre.
- Artikel 103 Absatz 1 GG: Das rechtliche Gehör, das in Artikel 103 Absatz 1 GG verankert ist, erfordert, dass die Beteiligten in einem Verfahren die Möglichkeit haben, ihre Argumente vorzutragen und angehört zu werden. Radtke hob hervor, dass KI-Systeme in der Justiz die Einhaltung dieses Rechts nicht beeinträchtigen dürften. Die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsprozesse müsse gewährleistet sein, damit die Parteien die Entscheidungen nachvollziehen und darauf reagieren könnten.
- Artikel 101 Absatz 1 GG: Dieses Grundgesetz garantiert den gesetzlichen Richter. Radtke wies darauf hin, dass dies auch die Vermeidung einer Beeinflussung durch KI-Entscheidungen einschließe. Der Einsatz von KI dürfe nicht dazu führen, dass Entscheidungen faktisch von Maschinen anstelle der richterlich vorgesehenen Instanz getroffen werden.
- Artikel 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 GG (Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht): Diese Vorschriften betonen die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Radtke machte deutlich, dass KI-Systeme, die in der Justiz verwendet werden, die Menschenwürde achten und die Persönlichkeitsrechte wahren müssen, indem sie den individuellen Kontext und die Besonderheiten eines jeden Falles berücksichtigen.
5. Zukunftsperspektiven und rechtliche Rahmenbedingungen
- Artikel 1 Absatz 1 GG (Schutz der Menschenwürde): Radtke betonte, dass die Menschenwürde der oberste Verfassungswert ist und auch im digitalen Zeitalter uneingeschränkt gelte. Er argumentierte, dass die Entwicklung von KI-Systemen stets die Wahrung der Menschenwürde berücksichtigen müsse, insbesondere bei der Gestaltung von Algorithmen, die in Entscheidungen eingreifen könnten.
- Artikel 2 Absatz 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht): Das allgemeine Persönlichkeitsrecht bleibe auch bei technologischen Entwicklungen zentral. Radtke hob hervor, dass die Freiheit des Einzelnen im Umgang mit seinen persönlichen Daten und die Selbstbestimmung auch im digitalen Raum geschützt werden müssen. Die rechtliche Gestaltung müsse sicherstellen, dass neue Technologien die Rechte des Einzelnen nicht unverhältnismäßig einschränken.
- Artikel 20 Absatz 1 und 3 GG (Rechtsstaatlichkeit und Bindung der öffentlichen Gewalt an Gesetz und Recht): Radtke betonte, dass die Digitalisierung und der Einsatz von KI die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht untergraben dürften. Jede technologische Neuerung, einschließlich KI, müsse sich an die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen halten und dürfe nicht die Kontrolle des Staates und die rechtsstaatlichen Prinzipien gefährden.
- Artikel 6 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) (Rechtmäßigkeit der Verarbeitung): Obwohl die DSGVO eine europäische Vorschrift ist, erwähnte Radtke die Relevanz von Artikel 6, der die rechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten regelt. Radtke machte deutlich, dass der Einsatz von KI-Systemen in der Justiz besonders darauf achten müsse, datenschutzrechtliche Vorgaben einzuhalten, um die Rechte der Bürger zu schützen.
- Artikel 3 Absatz 1 GG (Gleichheitsgrundsatz): Radtke verwies auf die Notwendigkeit, dass KI-Entscheidungen den Gleichheitsgrundsatz wahren müssten. Die Gefahr, dass algorithmische Systeme unbewusste Vorurteile (Bias) reproduzieren und diskriminierende Entscheidungen treffen, müsse durch rechtliche Vorkehrungen minimiert werden.
Schlagworte: Bundesverfassungsgericht, GG, Grundgesetz, Henning Radtke, Jura, KI